Die Süddeutsche Zeitung über Sonja Pikart
Die Süddeutsche Zeitung schreibt am 14.10.24 über die Deutschland-Premiere von Sonja Pikarts Programm „Halb Mensch“:
Die Evolution als „sehr glückliche Frau, die einen sitzen hat“ zu bezeichnen: Gäbe es einen Preis für das zugleich am meisten überraschende wie auch punktgenau treffende Sprachbild, Sonja Pikart hätte ihn für diese Beschreibung widerspruchslos verdient. Zumal so fein filetierte Gedanken und Sentenzen nicht nur Momentaufnahmen waren bei ihrer Deutschlandpremiere am Freitagabend im Alten Kino in Ebersberg. Sie zogen sich als charakteristisches Gewürz durch das gesamte Programm, das sich als nahrhaft für den Geist erwies, ohne zu übersättigen.
Wenn sich mal jemand fragen sollte, was aus dem guten, klugen, inspirierenden Kabarett geworden ist, das einst unser Leben klarer und klüger gemacht hat, dann gibt es seit diesem Auftritt eine ermutigende Antwort: Es lebt.
Es lebt gerade davon, dass Pikart aus dem Stand Gedanken in die Welt setzt, die nur Nuancen von der Wirklichkeit entfernt scheinen, um sich eine Denknuance später als solche zu entpuppen. Menschen, die sich aus Sorge über ihr Gewicht am Hometrainer abstrampeln, um Energie für Saugroboter und Künstliche Intelligenz zu erzeugen: Wer möchte zweifeln? Das „besch****ne Traditionen das neue CO2“ sind, für das es dringend einen Handel mit Zertifikaten braucht: Wem erscheint das nicht zielführend? Dass das Ende der Menschheit eine „Talkshow ist, bei der sich der ganze Planet prügelt“: Wer wartet nicht darauf?
„Halb Mensch“ hat die Kabarettistin dieses neue Programm genannt, womit sie ganz offenkundig nicht nur sich selbst meint, sondern diese Welt und ihre Menschen, die sie mit Liebe und Nachsicht betrachtet, um sie anschließend cayennepfefferscharf zu analysieren. Die Präzision und Anschaulichkeit mancher Gedanken gereichten manchen zur Ehre, die sich als Philosophen bezeichnen: Bedeutet der polarisierende Diskurs, der die öffentliche Meinung prägt, bedeutet dieses kategorische „richtig oder falsch“, „dafür oder dagegen“ nicht etwa, dass „wir“ zur KI geworden sind? Zur KI, die ihre Entscheidungen computerkonform auf der Basis „1 oder 0“ fällt?
Der Rahmen, den Pikart ihrem Programm gibt, verlegt den Ort des Geschehens in einen Bunker. Einziger Schmuck: Eine still in sich ruhende Discokugel, die sich nach der Pause einer überraschenden Metamorphose unterzieht. In diesen abstrakten Raum (Oder ist es eine konkrete Blase?) haben sich angstvoll die Menschen zurückgezogen, weil „draußen“ die Maschinen und Roboter die Herrschaft übernommen haben. Ihre Rolle gerät schnell zu der, die ein glühender Draht für einen Eiswürfel spielt: Es taut, es fließt, es verändert sich radikal der erstarrte Zustand. Das schiere Paradoxon, dass ihr erhellender Auftritt zum einen Licht in diesen Bunker bringt, zum anderen aber ihre energiegeladenen Appelle dazu beitragen wollen, die Menschen wieder daraus hervorzulocken – das ist große Kunst. Gleichzeitig sind ihre überzogenen, unverzagt ins Dunkel des Raums gestanzten klugen Kurzkommentare so erschütternd, dass einem das Glas vor dem Mund zittert, weil man immer wieder über ihr „Es ist schlimm“ lachen muss.
Aus diesem Ansatz ergibt sich praktische Lebenshilfe, um die Technik mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Müssen wir bei jedem Hashtag Worte wählen, die auch das Bild beschreiben? Oder sollten wir Suchmaschinen und KI nicht mit einem schrulligen #nudelholz unter dem Sonnenuntergang in die Irre führen? Das ist ein ebenso einfacher wie umwälzender Vorschlag, um das eigene Profil wieder weniger durchschaubar, dafür mehr eigen zu machen: „Ich bin eine merkwürdige Person, nicht nur für Amazon und Google.“ Es sei die Schrulligkeit, die uns zu Menschen mache, ist Pikart überzeugt und ermutigt die Anwesenden, sich dieser Eigenschaft zu bedienen. Nicht um andere zu erheitern, sondern mutig den eigenen Weg, die eigene Freude am Leben sichtbar zu machen. Aber nicht nur auf der technischen Seite, auch im menschlichen Miteinander weisen die diversen Bühnenfiguren Wege, um aus der Klimakatastrophe von Verlogenheit und Überheblichkeit auszubrechen und einen persönlichen Klimawandel herbeizuführen. Der fingierte Dialog der „Humanisten“ über ihre fleischliche Nahrung entfaltet gallebitteren Geschmack erst beim Abgang in die Tiefen des Bewusstseins: „So lange der Mensch (!) vorher ein schönes Leben hatte…“
Was sich nachhaltig auf den Aggregatzustand „Publikum“ auswirkt, ist Pikarts aus- gefeilte Schauspielkunst. Kunstvoll und konsequent geht sie zu Werke, wenn sie in Höchstgeschwindigkeit die Persönlichkeiten wechselt, die sich auf der Bühne Wortgefechte liefern oder – mal grobe, mal elegante, mal dusslige, mal kluge – Dialoge entwickeln.
Das frühlingsfrische Girlie oder die verhuschte, seelenverletzte Träumerin, der unsexy, gutgläubige Jüngling und der kernig, kraftstrotzende Polizist: Sie alle entwickeln in Sekundenschnelle eine glaubwürdige Persönlichkeit mit so scharfen Konturen, dass man sie nicht nur hören und spüren kann, sondern sogar vor sich sieht, selbst wenn da immer noch die gleiche Kabarettistin vor uns steht. Mit winzigen Veränderungen in Mimik, Haltung, Gestik, vor allem aber: Sprache, vollziehen sich in Windeseile Wandlungen, die so unglaublich scheinen, dass sie schon wieder wahr werden. Das Meisterstück schließlich ist die überspannte Wienerin von fortgeschrittener Lebenserfahrung, der die Welt so etwas von wurscht erscheint und die sich souverän das Krönchen der eigenen Richtigkeit aufsetzt, dass es eine wahre Freude ist – und der man es anmerkt, dass die Pikart nicht nur bei der Postleitzahl in ihrer Wahlheimat angekommen ist, sondern mit Leib und Seele die Transformation von der westfälischen zur wienerischen Sentimentalität vollzogen hat.
Kein Wunder, das sie demnächst den österreichischen Kabarettpreis erhält. Dessen Jury ihre Anerkennung für „Halb Mensch“ in den Sätzen zusammengefasst hat: „„Halb Mensch“: Eine U- und Dystopie, ein brillantes und irrwitziges Programm, das einige reale Knackwatschen in petto hat.“ Welche, da verbal ausgeteilt, keinerlei Schmerz verursachen, sondern den inneren Erkenntnisgenerator anschubsen. Was sich beim Ebersberger Premierenpublikum in einem heftigen Ausbruch von Applaus, freudigem Lachen und angeregten Nachgesprächen bemerkbar machte. Beide Auszeichnungen: Hochgradig verdient.